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+++ Das Tagebuch von Roger Penrose (April - Sept. 1999) +++
Der Untersuchungsausschuß ist in die Osterpause gegangen, meine zweite Vorladung wurde erneut verschoben. Habe vor der Abreise noch einmal Katja besucht. Ein schöner Abend, auch ohne Dornröschensekt. Sie arbeitet jetzt als Computerdesignerin und führte mir ihren neuen Computer vor. Stießen beim Surfen im Internet im Archiv des Tagesspiegel auf ein Link, das meine Reisepläne änderte: http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/22.03.1999/michalke_herrmann.html Michalke lebt? Ich habe doch selbst gesehen, wie er vom Dach meines Hotels am Heinrichplatz abgestürzt ist, als er mit seiner Pistole auf mich zielte und dabei nicht auf den unsicheren Untergrund geachtet hat. Fast zehn Jahre ist das her. Ich gebe zu, daß ich damals kopflos gehandelt habe. Rannte zurück in mein Zimmer, raffte das Nötigste zusammen und verdrückte mich zum Potsdamer Platz, wo ich im Extrablatt Berliner Geschichte studierte und auf eine Eingebung wartete. Katja war entführt worden, und ich hatte keine Ahnung, wo ich sie suchen sollte. Erst am nächsten Tag, als das Schlimmste überstanden war, bin ich zur Westberliner Polizei gegangen. Die Kripo untersuchte das Dach und fand Spuren des Absturzes, nicht jedoch vom Aufprall im Hof. Kein Blut, keine Leiche, keine Zeugen. Die Beamten einigten sich auf die Version, daß Michalkes Kumpane Leiche und Spuren beseitigt hatten. Im Osten durften sie damals noch nicht wirksam werden, die Ermittlungen wurden eingestellt. Michalke tauchte nie wieder auf; er wurde für tot erklärt. Und nun dieser Artikel. Der "Tagesspiegel" ist keine Boulevardzeitung, dort wird ein Gerücht nur veröffentlicht, wenn es sichere Anhaltspunkte dafür gibt. Also lebt der Mann noch, der mich ermorden wollte! Habe alle Termine in London abgesagt und bleibe einstweilen in Berlin.
Berlin, 2. April 1999
Karfreitag! Konnte in der Redaktion niemanden erreichen, der mir Auskunft über die Quellen des Artikels über Michalke geben konnte. Muß wohl warten, bis die Feiertage vorbei sind. Mit Katja zum Potsdamer Platz gefahren. Nichts wiedererkannt. Futuristische Bauten statt kahler Einöde. Wir fanden die Stelle nicht mehr, an der Michalkes Bude gestanden hatte, der "Bratwursthimmel". Setzten uns in ein Café, und ich kam endlich dazu, ihr zu erzählen, weshalb ich sie damals gefunden hatte ohne eindeutige Indizien und doch mit traumwandlerischer Sicherheit. Jäger und seine Kumpane hatten sie entführt, gefesselt und in der Kanalisation neben einer Bombe versteckt. Und ich saß ohne jede Idee direkt neben dem Einstieg in die Kanalisation und las Zeitung. Die Artikel über die Berliner Geschichte waren so plastisch geschrieben, daß ich mich in die Zeit versetzt fühlte. Eigentlich glaube ich bis heute, daß ich die Zeitreisen tatsächlich angetreten habe, nicht bloß geträumt. Schließlich hatte ich hinterher ja wichtige Unterlagen und Werkzeuge in der Hand, mit denen es mir gelang, Katja zu finden und zu befreien.
Berlin, 3. April 1999 Abends wieder im Internet gesurft. Heutzutage haben die Geheimdienste ihre Homepages wie jeder normale User. Hat man erst einmal einen gefunden, findet man alle. Als Brite beginne ich natürlich bei den heimischen Diensten MI5, MI6, SAS: http://www.cc.umist.ac.uk/sk/index.html Von dort glückt mir der Sprung über den Atlantik zur CIA: Natürlich ist der Zugriff auf geheime Daten sehr beschränkt, fast unmöglich für einen unerfahrenen Surfer wie mich, doch immerhin erlauben sie mit einer Suchmaschine begrenztes Aktenstudium. Ich tippe ein: Berlin Connection. Und werde fündig. Als der Download beginnt, schaltet Katja den Computer aus. Es ist immer gefährlich, einen Geheimdienst per Internet zu besuchen, sagt sie. Während man das belanglose Zeug studiert, das sie einem anbieten, sehen sie sich in deinem Computer um. Das weiß ich nur zu gut aus jener Zeit, da ich der Spur der seltsamen Metallbehälter gefolgt bin. Trotzdem ist es ärgerlich, daß ich nur einen Bruchteil der Informationen laden konnte. Als sie schläft, versuche ich es noch einmal. Die CIA-Suchmaschine entschuldigt sich höflich, daß sie das File nicht finden kann; ich solle präzisere Angaben machen. Frustriert gehe ich zu Bett.
Berlin, 4. April 1999 Der Download wurde entschieden zu früh abgebrochen. Der geladene Text: 'Berlin Connection' ist das Codewort für eine Organisation, die in den Zeiten des Kalten Krieges von Ost- und Westagenten gegründet wurde. Sie diente nicht dem Interesse der Staaten oder Dienste, sondern einzig denen der Beteiligten. Bekannte Mitglieder sind Arnfried Wolff-Glogowski (alias "Jäger"), zuletzt Hauptmann im Ministerium für Staatssicherheit der DDR, derzeit Politiker einer Regionalpartei; Herrmann Michalke, bis 1964 Leutnant im MfS, seitdem in Westberlin, Inhaber von "Michalkes Bratwursthimmel", 1989 verschollen und für tot erklärt; Laurent Leterrier, ehemals in Berlin tätiger V-Mann des französischen Auslandsgeheimdienstes DGSE (Direction générale de la sécurité extérieur), 1990 ausgemustert (Verdacht der Spionage für KGB und CIA), seitdem in verschiedenen Berufen und verschiedenen Ländern, derzeit mit Green Card in den Vereinigten Staaten, Inhaber von "Michalkes Bratwursthimmel" am Union Square, New York. Der Kopf der weit verzweigten kriminellen Organisation und die weiteren Mitglieder konnten bisher nicht ermittelt werden. 1989 gelang durch die Aktivitäten eines Außenseiters der bisher größte Schlag gegen die 'Berlin Connection'. Der britische Fotograf ...
An der für mich spannendsten Stelle bricht das Dokument ab. http://www.thecodex.com/c_links.html Bei der CIA hingegen nichts Neues und nichts Altes über die 'Berlin Connection'. Las in den FAQs: Does the Central Intelligence Agency engage in assassinations? No. Executive Order No. 12333 explicitly prohibits the Central Intelligence Agency from engaging, either directly or indirectly, in assassinations. Internal safeguards and the congressional oversight process assure compliance. Wers glaubt, wird Ehrenmitglied der CIA!
Berlin, 5. April 1999 Beim Nachdenken über das fragmentarische CIA-Dokument ergab sich die Frage, weshalb die CIA nur die drei Leute namentlich kennt, die auch mir begegnet sind. Monsieur Laurent Leterrier bin ich zwar wissentlich nie begegnet, doch tauchte sein Name bei den Untersuchungen der Westberliner Kripo über Michalkes vermeintlichen Tod auf, und ich hatte ihn in meinem Tagebuch notiert. Auf simplem Papier, nicht in einem Computer geschweige denn online. Wie sind sie in den Besitz meiner Aufzeichnungen gekommen? Wahrscheinlich haben sie ihre Informationen von der Polizei, versuche ich mich zu beruhigen. Das ungute Gefühl bleibt. Die CIA interessiert sich nicht nur für die 'Berlin Connection', sondern auch für mich.
Berlin, 7. April 1999 Heute endlich G.A. getroffen, den Journalisten, der den Artikel über Michalke geschrieben hat. Seine Quelle war Arnfried Wolff-Glogowski alias "Jäger". Das Gespräch sei in zwangloser Runde zufällig auf Michalke gekommen, und Jäger erwähnte beiläufig, er habe unlängst von einem guten Bekannten gehört, daß der Michalke kürzlich getroffen und mit ihm gesprochen habe. Leider erinnerte sich Jäger nicht mehr daran, wo das gewesen sei, doch habe er sehr glaubwürdig gewirkt. Es sieht so aus, vermutete ich, daß Michalke selbst mit Hilfe seines Kumpans Jäger die Nachricht von seinem Überleben lanciert hat, um etwaige Reaktionen zu testen. Wahrscheinlich will er nach Deutschland zurückkehren. G.A. war erstaunt über meine Überlegungen, hielt sie aber nicht für abwegig. Die Reaktionen, soweit er davon erfuhr, waren positiv, man erinnerte sich gern an den zwielichtigen Bratwursthändler als ein echtes Berliner Original.
New York, 12. April 1999
Sitze allein in einem kleinen Warteraum des Flughafens. Irgendetwas in meinen Papieren müsse überprüft werden, ich solle mich gedulden. Außer dem Paß hat man mir nichts abgenommen. Ich weihe meinen neuen Laptop-Computer ein. In New York, Paris und Berlin soll ich für ein Reisemagazin eine Fotoserie über den Frühling in der Großstadt schießen. Der Auftrag wird gut bezahlt, also gehe ich mit der Zeit und leiste mir endlich, was andere längst haben. Es hat Spaß gemacht, mit Katja durchs Internet zu surfen. Die Tage bei ihr in Berlin waren schön. Eigentlich schade, daß damals nichts aus uns geworden ist. Die gemeinsamen Erlebnisse, besonders natürlich die die lebensgefährlichen, hatten schnell eine Beziehung entstehen lassen, die nach einer Fortsetzung schrie. Doch die Zeit hatte uns getrennt. Ich mußte zurück nach London, Katja konnte nicht mitkommen. Wir schrieben uns Briefe, doch aus einem Besuch wurde nichts. Immer wenn sie Zeit hatte, war ich beruflich unterwegs. So verloren wir uns nach und nach aus den ...
New York, 13. April 1999
Zuerst die gute Nachricht: Ich bin frei.
New York, 14. April 1999
Fünf Stunden dauerte das Gespräch mit Mr. Miller. Ich war müde von der Reise, ich konnte nicht mehr. Die Fragen prasselten auf mich ein. "In wessen Auftrag haben Sie den Bunker mit den Blechbehältern gesprengt, Penrose? Klar, das waren Sie nicht, es war Jäger, natürlich, hätte ich mir gleich denken können."
New York, 15. April 1999 Natürlich läßt Miller mich beschatten. Soll er! Da lernen die Agenten endlich mal New York im Frühling kennen. Habe alle Motive im Kasten. Wußte schon vorher, was ich suche, zum einen, weil ich schon mal hier gewesen bin, zum anderen hatte ich mich natürlich im Web kundig gemacht, etwa unter: http://www.city.net/countries/united_states/ new_york/new_york/
Für den letzten Tag allerdings hatte ich mir etwas vorgenommen, was mit der 'Berlin Connection' zusammenhängt. Versuchte, die Bewacher abzuschütteln, fuhr mit der U-Bahn kreuz und quer, sprang eine Sekunde vor der Abfahrt heraus, wie man es in Filmen sieht. Es nutzte nichts. Vor der Tür des riesigen Freßtempels am Union Square erwartete mich grinsend Mr. Miller. Sein Goliath stand unauffällig in der Nähe.
New York, 16. April 1999 Miller wurde dann doch umgänglicher. Er gab mir sogar ein paar Informationen. Laurent Leterrier sei in seine Heimat geflogen, genau dahin, "wohin auch Sie morgen reisen werden, Penrose. Welch Zufall!" Er glaubte mir noch immer nicht, doch zeigte er mir ein Foto von Monsieur Laurent. Ich erkannte ihn sofort wieder. Gesehen hatte ich ihn nur einmal. Das war am Morgen nach jener ersten Nacht mit Katja gewesen. Sie war Brötchen kaufen gegangen, und ich hatte auf die Straße geblickt, weil sie so lange fort blieb. Da war ein Mann sehr auffällig neben einem Trabant hin- und hergelaufen. Ich glaube, er hat mich sogar fotografiert. Wenig später kam dann der Anruf von Jäger. "Wenn Sie Ihre Freundin wiedersehen wollen, kommen Sie zum Fernsehturm." Monsieur Laurent gehörte also zu den Entführern. Und wahrscheinlich werde ich ihn in Paris treffen.
Miller war so redselig, weil er etwas von mir wollte. Informationen, was sonst. Ich bin kein Spitzel, also sagte ich nicht zu. Ich sagte aber auch nicht ab. Wenn man mit Leuten wie Laurent zu tun bekommt, ist es ein beruhigendes Gefühl, die CIA auf seiner Seite zu wissen. Bleibt nur die Frage: Ist sie auf meiner Seite?
Paris, 17. April 1999 Habe mich, wie immer, im Internet über die Stadt kundig gemacht: http://citynet.excite.com:80/countries/france/paris/
Weiß genau, wo ich die Motive für meine Fotoserie finde. Ich fühle mich dennoch unbehaglich. Glaube, ich werde beobachtet. Bisher konnte ich nicht herausfinden, wer mir hinterherschleicht. Fotografiere manchmal wild nach allen Seiten, sogar in der Metro. Vielleicht kann ich bei der Vergrößerung der Bilder feststellen, ob dieselben Gesichter an den unterschiedlichsten Plätzen auftauchen.
Paris, 18. April 1999
Nur ein Wunder hat mich gerettet. Ich stand an einer Ampel, wartete auf Grün. Jemand stieß mich von hinten an, ich taumelte auf die Straße. Franzosen fahren schneller als Briten und Amerikaner, besonders in den Städten. Autos rasten auf mich zu, oder genauer: Ich stolperte auf die rasenden Autos zu. In letzter Sekunde packte mich eine Frau am Arm und riß mich zurück. Ich konnte mich nicht mal bedanken, denn die Ampel schaltete auf Grün, und sie ging über die Straße. Ich war zu erschrocken, ihr sofort zu folgen, und als ich mich eine Grünphase später endlich dazu aufraffen konnte, war sie längst verschwunden.
Paris, 19. April 1999 Hatte Zeit, über alles nachzudenken. Das Wetter ist zu trübe zum Fotografieren. Lag fast den ganzen Tag auf dem Hotelbett. Wer hatte mich unter die Autos stoßen wollen? Und warum? Und war die Rettung ein Zufall? Wer verfolgte mich? Den dicken Mann hatte ich nicht wiedergesehen, aber ich war nach Aufstieg ans Tageslicht so zerrüttet, daß ich zur nächsten Metrostation rannte und mich im Hotel verkroch. Was geht um mich herum vor? Stehe ich etwa wieder im Visier der Berlin Connection? In Paris?
Paris, 20. April 1999
Die Ereignisse überstürzen sich, und ich verstehe gar nichts mehr. Heute wurde auf mich geschossen. Der Stoß auf die Fahrbahn könnte unabsichtlich geschehen sein, der Schuß war eindeutig ein Anschlag. Und dann das anschließende Feuergefecht ...
Paris, 21. April 1999
Die Polizei unterbrach meine Aufzeichnungen. Ich glaube, in den nächsten Tagen werden die Flics noch oft Sehnsucht nach meiner Gesellschaft haben. Ich muß weiter nach Berlin, darf Paris aber nicht verlassen. Dabei bin ich das Opfer, nicht der Täter. Auch wenn es einen Toten gab - ich hatte damit nichts zu tun.
Paris, 22. April 1999
Immer wenn ich mit meinen Aufzeichnungen beginne, klopfen die Flics an die Tür. Scheint ein bedingter Reflex zu sein. Ich werde sie nicht los, weil ich den Fehler gemacht habe, den Toten zu identifizieren. Sie glauben, daß ich mehr weiß. Das ist auch der Fall, doch so, wie sie mich behandeln, erfahren sie von mir gar nichts.
Paris, 23. April 1999
Manchmal glaube ich, das Schlimmste, was man einem Franzosen antun kann, ist, seine Sprache nicht zu sprechen. Mein Französisch ist so holprig, daß ich bei meiner Aussage immer wieder ins Englische wechseln mußte, was die Flics verstimmte. Sie trieben zwar einen Kommissar auf, der englisch sprach, doch tat er das nur wiederwillig und ließ es mich spüren.
Paris, 24. April 1999 "Aus welchem Grund haben Sie sich mit Leterrier und Michalke auf dem Friedhof getroffen? Wenn Sie Leterrier gar nicht treffen wollten, weshalb sind Sie ihm dann um die halbe Erde gefolgt? Um den Frühling in Paris zu fotografieren? Daß ich nicht lache, Monsieur Perose!" So geht das Tag für Tag. Es scheint in Frankreich ebenso unglaubwürdig zu sein wie in den USA, daß ich mein Geld mit Fotos verdiene. Dabei haben sie den Beweis dafür vor sich, denn sie haben alle meine Filme entwickelt. Pflanzen und Häuser. Aber auch Menschen, viele Menschen. Auf Straßen, in Bussen und in der Metro, auf Bahnhöfen, sogar in der Lobby meines kleinen Hotels. Sie haben sie mir zurückgegegen, weil sie nichts Verdächtiges darauf gefunden haben. Bis auf eines, das ich immerhin betrachten durfte. Es entstand am Gare de Montparnasse und zeigt, wenn auch nur von fern und kaum zu erkennen, Leterrier und Michalke.
Paris, 25. April 1999 Sonntag - mein polizeifreier Tag. Habe alle Fotos genau gesichtet. Auf einem weiteren ist Leterrier zu sehen, auf einem anderen Michalke, auf einem dritten der dicke Mann aus den Katakomben. Die größte Überraschung aber war die Frau, die mich vor dem Überfahrenwerden gerettet hat. Ich habe sie zwar nicht sehr genau betrachten können, weil ich zu erschrocken und weil sie zu schnell verschwunden war, aber ich glaube, sie auf zwei Fotos wiederzuerkennen. Nun verstehe ich gar nichts mehr. Habe ich einen Schutzengel?
Paris, 26. April 1999
Endlich sind die Akten aus Berlin eingetroffen, aus denen hervorgeht, daß Michalke schon einmal auf mich schießen wollte und daß er seit damals untergetaucht ist. So richtig glaubt man mir noch immer nicht, aber es gibt keinen Grund mehr, mich in Paris festzuhalten. Darf endlich nach Berlin weiterreisen. Wird auch Zeit, wenn ich den Frühling auch dort noch erwischen will. Soll ständig meine Adresse hinterlassen, um für Nachfragen erreichbar zu sein. Paßt mir gar nicht. Was geht es die Polizei an, daß ich bei Katja wohnen werde?
Berlin, 28. April 1999 Der arme "Jäger" ist zu bedauern. Jedenfalls sieht er das selber so. Nachdem ich Katja alles erzählt hatte, kamen wir zum Entschluß, die Ereignisse nicht passiv über uns hereinbrechen zu lassen. Wir suchten das einzige Mitglied der 'Berlin Connection' auf, das für uns greifbar war. Zu unserer Überraschung empfing uns Wollf-Glogowski. Uns war unbehaglich zumute in seiner kleinen Neubauwohnung. Immerhin hatte er versucht, uns in die Luft zu sprengen. Jetzt gab er sich als Bündel Elend, als gründlich gescheiterte Existenz. Und dabei hatte er es nur gut gemeint. Mit seinen Mitteln und Fähigkeiten hatte er sich für das Zusammenwachsen der beiden Teile von Berlin eingesetzt. Und was war der Dank? Der linksradikale Flügel der PDS - ausgerechnet! - deckte seine Vergangenheit auf, und nach halbherzigen Versuchen, ihn trotzdem zu halten, ließ man ihn fallen. Dem Ausschluß aus der Partei kam er durch Austritt zuvor. Und nun hat er gar nichts mehr als die schäbige Sozialhilfe. Fast hätte er geweint.
Berlin, 29. April 1999
Ehe wir mit Jäger gemeinsam weinten, stellten wir ihm doch lieber ein paar ernsthafte Fragen, aber auch da barmte er herum, anstatt uns mit Antworten zu versorgen. Die 'Berlin Connection' bezeichnet er als Legende. Die Ereignisse von 1989 - so nannte er die Entführung von Katja und den Mordanschlag - bedauerte er; ja, das war eine schlimme Zeit, und es sind böse Dinge geschehen. "Aber ich war damals nur Befehlsempfänger! Was ist schon ein Hauptmann! Ein ganz kleines Licht! Ich habe nichts angeordnet, ich habe nur ausgeführt! Und Ihnen ist ja nicht wirklich etwas passiert. Ja, es war gefährlich, ich weiß, aber in Wahrheit wollten wir nicht Sie beide in die Luft sprengen, sondern nur die Behälter. Ach, was ich über Sprechfunk gesagt habe, war doch eher eine Warnung als eine Drohung. Keine Ahnung, was in den Behältern war, mir hat man nichts gesagt, ich war nur ein ganz kleines Licht!"
Berlin, 30. April 1999 Millers Goliath ist bei uns eingetroffen. Als wir vorgestern von dem Besuch bei Jäger in Katjas Wohnung zurückgekehrt waren, fanden wie eindeutige Spuren einer Durchsuchung. An wen konnten wir uns wenden, wem trauen? Außer dem CIA-Mann Miller fiel mir niemand ein. Ich rief ihn an, und er war sofort bereit, uns zu helfen. Selbst war er unabkömmlich, doch seinen Leibwächter konnte er entbehren. Nun wird es eng in Katjas Zweiraumwohnung. Denn natürlich wohnt er auch hier, sonst könnte er uns ja nicht schützen. Wenn ich sein finsteres Gesicht sehe, frage ich mich allerdings, ob es eine kluge Entscheidung war, ihn zu rufen. Ich beruhige mich damit, daß er auf Typen wie Michalke erst recht eine abschreckende Wirkung haben dürfte. Habe also endlich die Gelegenheit, unbedroht meine Fotoserie zu beenden.
Berlin, 1. Mai 1999 War zum ersten Mal Zuge eines deutschen Rituals, von dem ich bisher nichts ahnte, weil es in meinen Londoner Nachrichten nur eine untergeordnete Rolle spielt: Die revolutionäre Demonstration in Berlin. In jedem Jahr, so Katja, endet sie mit einer Schlägerei zwischen Autonomen und Polizei. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen, es gehört ja irgendwie auch zum Frühling in der Großstadt. Unser Leibwächter blieb bei Katja in der Wohnung. Obwohl ich in Kreuzberg an vorderster Front dabei war, bekam ich nicht so recht mit, wie sich die Stimmung aufschaukelte. Flaschen flogen, Knüppel wurden geschwungen, Wasserwerfer bespritzten alles, was ihnen vors Rohr kam, besonders die eigenen Leute, irgendwann brannte ein Auto, Schaufensterscheiben gingen zu Bruch. Das wurde mir zu heftig, ich zog mich zurück und rammelte sehr heftig mit einem großen Punk zusammen. Ich war schon auf das Schlimmste gefaßt, da erkannten wir uns gegenseitig. Als ich am 10. und 11. November 1989 in Berlin gewesen war, hatte Bark mehrfach meinen Weg gekreuzt ("Haste mal ne Mark?") und war auch für Tauschgeschäfte zu gewinnen.
Wir zogen sofort in die nächste offene Kneipe weiter. Äußerlich hatte er sich zwar kaum verändert, aber aus dem Alter, wo ihm Schlägereien Spaß machen, ist er heraus, sagte er mir. Vor zehn Jahren war keine Zeit für ein Gespräch gewesen. Das holten wir jetzt gründlich nach, und wir verabredeten uns für den nächsten Tag, um die Unterhaltung fortzusetzen.
Berlin, 2. Mai 1999 Saßen am Kollwitzplatz in einem Straßencafé und plauderten mit Bark. Eine entspannte Unterhaltung. Katja und ich vergaßen für ein paar Stunden die Berlin Connection; wir erwähnten nicht mal, daß der riesige Kerl am Nebentisch unser persönlicher Leibwächter war. Vielleicht hat uns das ja gerettet. Bark fiel nämlich auf, daß der Goliath uns beobachtete und daß er uns hinterher lief, als wir uns trennten. Da folgte er unauffällig dem Verfolger, und da der ihn mit uns zusammen gesehen hatte, schickte er ihm einen Kumpel hinterher, den er unterwegs traf. Und der hörte ein Telefonat mit an, daß Smith (Agenten sind so einfallslos mit ihren Namen!) über sein Funktelefon führte. Leider waren seine englischen Sprachkenntnisse nicht so entwickelt, daß er jedes Wort verstanden hätte, doch der Sinn wurde ihm klar. Am Abend rief Bark mich an und zitierte mich in eine Kneipe in Katjas Straße. "Et is janz wichtig!" Mehr sagte er am Telefon nicht, und so hätte ich Smith fast mitgenommen. Ich wunderte mich schon, daß er von sich aus kaum Anstalten machte, mich bei meinen gefährlichen Unternehmungen zu begleiten. Was für ein Leibwächter ist das, der uns zum Einkaufen oder beim Kneipenbummel begleitet, die revolutonäre Demonstration aber lieber in den Nachrichten verfolgt?
Berlin, 3. Mai 1999
Konnte gestern nicht weiterschreiben, weil Smith sich zu uns gesellte. Und gerade er durfte nicht mitbekommen, was ich schrieb. Denn um ihn ging es bei Barks Enthüllungen.
Berlin, 4. Mai 1999 Es ist unangenehm, jemanden hinter sich zu wissen, der jeden Augenblick grünes Licht für einen Todesschuß oder eine andere häßliche Aktion bekommen kann. Bin am Freitag vor den Untersuchungsausschuß geladen. Wenn das stimmt, was Barks Kumpel gehört hat (und weder Katja noch ich zweifeln daran), werde ich nicht lebend in Bonn ankommen. Katja ist zwar nicht geladen, aber ebenso in Gefahr, da sie inzwischen dasselbe weiß wie ich. Wir müssen Smith abschütteln und uns irgendwo verkriechen.
Berlin, 5. Mai 1999 Smith wartete vor der Tür des Supermarktes auf uns. Katja und ich gingen hinein und verließen ihn sofort durch die Flaschenannahme und den Liefereingang. Das Personal guckte zwar verwundert, sagte aber nichts. Katja ist dort Stammkundin, und der läßt man offenbar einiges durchgehen. Durch den Zaun am Parkplatz auf das Nachbargrundstück, durch einen Hausflur in eine andere Straße, und schon waren wir Smith los. Zwanzig bis dreißig Minuten würde es sicher dauern, bis er mitbekam, daß wir nicht mehr in der Kaufhalle waren. Diese Zeit brauchten wir, um unsere Sachen aus der Wohnung zu holen, die Kleidung, den Fotoapparat, die Filme, meinen Laptop, Disketten mit Katjas Arbeiten. Gepackt hatten wir in der Nacht, ohne daß Smith es gemerkt hatte. Adieu, Berlin. Adieu, Deutschland. England ist groß. Bis sie uns dort gefunden haben, ist uns sicher etwas eingefallen.
England, 6. Mai 1999
From: Roger.Penrose@London.gb Sehr geehrte Herrschaften, auf diesem Wege möchte ich Sie davon verständigen, daß ich zu dem für morgen anberaumten Termin leider nicht erscheinen kann. Vor zwei Wochen schossen in Paris die Herren Michalke und Leterrier auf mich. Eine unbekannte Partei erschoß Laurent Leterrier. Die Bedrohung meiner Person setzte sich in Berlin fort, so daß ich es für sicherer halte, mich zu verstecken. Ich bin sicher, daß die Bedrohung meiner Person mit der Berlin Connection zusammenhängt, an deren Entlarvung ich genauso interessiert bin wie Sie. Ich wünsche Ihnen daher einen schnellen Erfolg. Mit Ihren Fragen können Sie sich auf diesem Wege an mich wenden; die Mail erreicht mich, wo immer ich mich aufhalte. Mit vorzüglicher Hochachtung Roger Penrose
England, 7. Mai 1999
From: ua.berlin-connection@bonn.de (Untersuchungsausschuß) Sehr geehrter Mister Penrose, wir bedauern, daß Sie sich in unserem Land so unsicher fühlen, daß Sie es nicht wagen, einen vom Parlament berufenen Untersuchungsausschuß direkt zu kontaktieren. Ihre Information über die Schüsse in Paris trifft zu. Insofern verstehen wir Ihre Besorgnisse. Wir bitten Sie dennoch, uns baldmöglich direkt aufzusuchen. Aussagen per E-Mail sind nicht gerichtsrelevant. Wir können ja nicht einmal sicher sein, daß wirklich Sie es sind, der uns schreibt. Insofern dürfen wir Ihnen im Augenblick auch keine Fragen stellen, obwohl Ihre Antworten uns interessieren. Mit freundlichen Grüßen
RA Burbach
England, 15. Mai 1999 Es hat über eine Woche gedauert, bis wir einigermaßen eingerichtet waren. Das Haus bringt niemand in Verbindung mit mir, der Ort läßt sich nicht erraten (das will ich doch stark hoffen!), und seinen Namen vertraue ich nicht mal diesen Aufzeichnungen an - wer weiß, wer sie liest! Wir sind untergetaucht, und das Schwierigste dabei war, die Verbindung zu unserem eigentlichen Leben nicht völlig abreißen zu lassen. Zwar können wir Freunde und Bekannte derzeit nicht treffen, doch ist es mir wenigstens gelungen, meine Fotoserie gerade noch rechtzeitig abzugeben. Katja kann ihre Arbeiten auf meinem Computer weiterentwickeln und per Internet den Auftraggebern zuschicken. Wenn also unsere Konten nicht gesperrt werden, müssen wir in den nächsten Wochen nicht hungern, obwohl etliches Geld dafür draufgegangen ist, das Haus in einen bewohnbaren Zustand zu versetzen. Von Zeit und Kraft ganz zu schweigen. Aber wir haben auch viel Spaß. Zwar leben wir hier gezwungenermaßen zusammen, doch wenn jeder Zwang so angenehme Seiten hätte, würde ich mich noch viel öfter zwingen lassen.
England, 16. Mai 1999 Ungewiß ist nur, wie lange wir uns hier verbergen müssen. So schön es auch ist für uns beide, wir werden uns nicht bis an unser Ende verkriechen können. Katja kann immerhin überall auf der Welt arbeiten, wenn sie nur einen Computer und einen Zugang zum Internet hat. Aber was soll ich hier fotografieren? Die frisch gestrichene Küche? Wenn nur der Untersuchungsausschuß endlich zu Ergebnissen kommen würde! Weshalb ist mein Wissen eigentlich so unerwünscht, daß die CIA einen Killer über den Ozean schickt, um meine Aussage zu verhindern? Falls es überhaupt diesen Grund hat! Ich weiß nämlich nichts, absolut nichts über die Berlin Connection. Was macht mich gefährlich?
England, 17. Mai 1999 In den deutschen Medien spielt die Berlin Connection derzeit keine große Rolle. Das ist angesichts der aktuellen Ereignisse durchaus verständlich. Um so erstaunter war ich, als ich einer Programmzeitschrift entnahm, daß auf NBC Giga TV am Freitag, dem 21. Mai 1999 um 17.00 Uhr eine Sendung kommt, die sich ausdrücklich damit befaßt. Haben uns sofort einen kleinen Fernseher gekauft und hoffen, den Sender hier empfangen zu können.
England, 19. Mai 1999 Wir haben in den letzten Tagen alles erörtert, was wir beobachtet und erlebt haben. Die Fakten - es sind ja so wenige! - haben wir zusammengestellt, um sie dem Untersuchungsausschuß zu mailen. Wenn auch das Gremium offiziell nicht zur Kenntnis nehmen darf, was ich schreibe, so werden sie es wenigstens lesen und zur Grundlage der Untersuchung machen. Die erste Mail mit meinen Erlebnissen in New York und Paris habe ich heute schon abgesetzt. Vielleicht können die Fachleute daraus Folgerungen ziehen, auf die eine Computerdesignerin und eine Fotograf nicht kommen.
England, 20. Mai 1999
From: Roger.Penrose@London.gb Sehr geehrte Herrschaften, auch wenn Sie den Eingang meiner gestrigen Mail noch nicht bestätigt haben, setze ich meine Mitteilungen fort. Als ich Ihnen vor einem halben Jahr die Fotos aus dem November 1989 übergab, habe ich Herrn Fugger mitgeteilt, bei welcher Gelegenheit sie entstanden. Wie die Pressespekulationen entstanden, die Bilder würden Herrn Jäger belasten, weiß ich nicht. Auf keinem meiner Fotos ist er zu sehen, und der einzige Gegenstand, der mit ihm in Verbindung gebracht werden könnte, ein Metallbehälter, ist wegen der Verstrahlung des Negativs nicht zu erkennen. Die Fotos besagen also wenig. Herr Jäger (dessen richtiger Name, wie inzwischen allgemein bekannt, Arnfried Wolff-Glogowski lautet) kann jedoch durch meine Aussage belastet werden. Ich bezeuge hiermit an Eides statt, daß Herr Jäger am 11. November 1989 auf der Aussichtsplattform des Berliner Fernsehturms mir gegenüber behauptete, er habe Katja Damm entführt und werde sie nur gegen Übergabe meiner Fotos freilassen. Später, als ich in die Kanalisation eingedrungen war, in der Frau Damm gefangen gehalten wurde, nahm er über Sprechfunk Kontakt mit mir auf und drohte mit der Zündung einer Bombe. Daß wir der Explosion lebend entkamen, ist nicht sein Verdienst. Meine Aussage von 1989 ist bei der Berliner Polizei aktenkundig; Sie haben sicher Zugang zu den Dokumenten. Mein Vorschlag: Laden Sie statt meiner Herrn Jäger vor Ihren Ausschuß. Er weiß mehr über die Berlin Connection als ich. Mit vorzüglicher Hochachtung Roger Penrose
Stasi Hauptmann "Jäger" nach unserer Unterredung 1989
England, 21. Mai 1999
From: ua.berlin-connection@bonn.de (Untersuchungsausschuß) Sehr geehrter Mister Penrose, falls Sie es denn wirklich sind, für Ihre beiden Mails bedanken wir uns. An der rechtlichen Situation hat sich allerdings nichts geändert. Wir dürfen Ihre Botschaften offiziell nicht zur Kenntnis nehmen. Bitte erscheinen Sie vor dem Ausschuß. Ihre Aussage könnte wichtig sein, ist aber mit Sicherheit nicht so brisant, daß jemand Sie deswegen bedrohen, gar töten würde. Vertrauen Sie uns! Mit freundlichen Grüßen
RA Burbach
England, 22. Mai 1999 NBC können wir hier tatsächlich empfangen, aber nicht in deutscher Sprache. Wissen also nicht, ob es neue Enthüllungen gibt. Hier ist alles ruhig. Bereiten uns auf ein friedliches Pfingstfest vor. Katja und ich verstehen uns selbst nicht, daß wir vor zehn Jahren nicht mehr Energie aufgebracht haben, uns wiederzusehen. Die Berlin Connection hat uns eine zweite Chance gegeben. Es ist an der Zeit, daß wir uns bei den Gangstern dafür bedanken.
England, 23. Mai 1999 Der Dank kam zu früh. Sie haben uns gefunden! Keine Ahnung, wie das möglich war. Ich habe mein Modem stets in Internetcafés oder ähnlichen Einrichtungen eingestöpselt. Oft sind wir dutzende Meilen gefahren, um keine Rückschlüsse auf den Ort zuzulassen, in dem wir uns aufhalten. Natürlich bewegten wir uns innerhalb eines letztlich doch begrenzten Kreises. Vielleicht hätten wir nicht gleichmäßig nach allen Seiten fahren sollen. Die Selbstkritik kommt zu spät, wir müssen weg. Ein Mann hat nach uns gefragt. Die Beschreibung, die mir die Bäckersfrau heute morgen auf der Straße gab, wo ich ihr zufällig begegnete, paßte ziemlich genau auf unseren ehemaligen Leibwächter Smith. Er gefiel ihr nicht, also hatte sie ihm nichts von dem kleinen Haus am Stadtrand gesagt, hatte behauptet, uns nicht zu kennen. Doch ist Smith bereits im Ort. Und das heißt: Wir müssen weg!
England, 24. Mai 1999 Ich verstehe immer weniger, was um mich herum vorgeht. Heute bei Morgengrauen sind wir aufgebrochen. Daß uns ein Wagen verfolgte, bemerkten wir erst auf der Landstraße. Katja machte mich darauf aufmerksam, daß der Porsche bereits seit Swindon hinter uns ist. Ich fuhr so schnell, wie ich konnte. Der Verfolger konnte es besser. Er kam immer näher. Ich mußte mich auf das Fahren konzentrieren, doch Katja wandte sich um. "Es ist Smith!" schrie sie. "Schneller, Roger, schneller!" Falls wir überhaupt eine Chance hatten, dann nur auf kurvenreichen Landstraßen. Ich kreuzte die A 420 und raste weiter vor dem Porsche her. Eine Ortschaft. Smith bremste nicht, wir also auch nicht. Glücklicherweise war um diese frühe Stunde noch niemand unterwegs. Selbst die Polizei schlief noch. Smith kam immer näher, doch was wollte er machen? Uns rammen und von der Straße drängen? Er war allein im Auto, schießen konnte er also nicht, dachten wir. Das war ein Irrtum.
England, 25. Mai 1999 Genau in der Mitte zwischen uns brach ein winziges rundes Stück aus der Frontscheibe, nachdem die Kugel bereits die Rückscheibe durchschlagen hatte. "Roger!" schrie Katja, ich riß am Steuer, der Wagen schleuderte, und vielleicht deshalb verfehlte uns die zweite Kugel von Smith. Er lenkte mit der rechten Hand, der linke Arm lehnte auf der heruntergekurbelten Scheibe, und die Pistole in der linken Hand zielte genau auf uns. Eine Kurve, der Vorsprung vergrößerte sich um wenige Meter. Und dann lag eine schnurgerade Strecke von mehreren Kilometern vor uns. Der Porsche holte auf, schon konnte ich Smith im Rückspiegel erkennen, er grinste und visierte mich an. Plötzlich geriet sein Wagen ins Schleudern, die Pistole fiel aus seiner Hand auf den Asphalt, er packte das Lenkrad mit beiden Händen, mehr konnte ich nicht erkennen. Katja wandte sich um und sah, wie der Wagen einen Baum am Straßenrand knapp verfehlte, mit der Schnauze in einen Graben fuhr und sich mehrfach überschlug, bis er auf dem frisch begrünten Feld liegenblieb, die Räder nach oben. Er explodierte nicht, aber es sah ganz so aus, als wären wir Smith ziemlich billig losgeworden.
England, 26. Mai 1999 Natürlich war es kein Wunder gewesen, das uns in letzter Sekunde gerettet hatte. Jemand hatte auf Smith geschossen, vermutlich aus dem Wagen, den selbst Katja nur für einen Augenblick bemerkt hatte und der mir überhaupt nicht aufgefallen war. Ein großer schwarzer Wagen, ein Jeep oder Van, nicht mal das wußten wir genau. Und schon gar nicht, wer zum Teufel uns schon wieder aus der Patsche geholfen hatte. Ist ja wirklich beruhigend, daß da draußen irgendwo Schutzengel für uns unterwegs sind, aber warum zum Teufel zeigen sie sich nicht? Weil es Kollegen der Berlin Connection sind, fiel uns ein. Irgendwelche Gangster, die ihre Konkurrenz loswerden wollen. Ich raste so schnell davon, daß uns auch die Schutzengel nicht folgen konnten, nahmen wir an. Und darüber waren wir nicht traurig.
England, 29. Mai 1999 Noch einmal malern wir nicht, das steht fest. Das neue Quartier hätte es zwar so nötig wie das alte, aber wer weiß, wie lange wir hier bleiben. Wie es scheint, ist die Berlin Connection allgegenwärtig. So wird sie sicher bald auch hier wieder auftauchen. Wir bleiben wachsam!
England, 2. Juni 1999 Langsam stellt sich Normalität ein. Katja entwirft auf unserem Computer ein Firmenlogo, Briefköpfe und die Begrüßungsseite einer Homepage - schließlich müssen wir von irgend etwas leben. Ich schreibe in den paar Stunden, in denen sie das Gerät nicht braucht, alles auf, was ich über die Berlin Connection weiß. Das bezahlt mir leider niemand, und Aufträge zum Fotografieren kann ich nicht annehmen. Über die unsichtbaren Helfer haben wir viel diskutiert. Ich habe sogar ein paar Anzeigen im Internet aufgegeben: "An alle Schutzengel! Dringend! Meldet euch bei Roger und Katja!" Bisher keine Antwort.
England, 5. Juni 1999 So kann es nicht weitergehen. Der Untersuchungsausschuß wird bald in die Sommerpause gehen, und wie es aussieht, sind sie noch keinen Schritt weitergekommen. Schweigen in den Medien und im Netz. Bis zum Herbst halten wir es hier nicht aus, so schön es auch ist. Und was, wenn der Ausschuß niemals zu einem brauchbaren Ergebnis kommt? Es wäre nicht das erste Mal, daß alles im Sande verläuft. Wir dürfen nicht auf Rettung von außen warten! Nur wissen wir beide nicht, was wir tun könnten.
England, 6. Juni 1999
From: angel.of.darkness@freemail.us Hi, Roger und Katja, aus Gründen, die ich nicht erläutern kann, ist ein direkter Kontakt zwischen uns nicht möglich. Nehmen Sie einfach an, daß Gott, der oberste Dienstherr aller Schutzengel, es nicht gestattet. Darüber, wer Sie warum umbringen will, kann auch ich nur spekulieren. Sofern dies, wie Sie vermuten, tatsächlich mit Ihrer geplanten Aussage vor dem Untersuchungsausschuß zusammenhängt, empfehle ich Ihnen, vor dem Untersuchungsausschuß auszusagen, die Aussage auf Video aufnehmen und von Zeugen beglaubigen zu lassen. Dann ist vermutlich alles ausgestanden. Denn wenn gerichtsverwertbare Aussagen auch für den Fall Ihres Todes vorliegen, hat niemand mehr Interesse an Ihrem Tod, außer vielleicht aus Rache. Das allerdings ist unwahrscheinlich, bei der Berlin Connection haben Sie es mit Profis zu tun. Rache ist ein Spaß für Amateure. Profis tun, was Profit bringt. Mir ist klar, daß Sie bei den Abgeordneten nicht einfach vorsprechen können. Checken Sie Montag zwischen 12 und 14 Uhr Ihre Mail und handeln Sie nach den Instruktionen. Angel
England, 7. Juni 1999
Wir fuhren in die nächste größere Stadt und suchten uns ein Internetcafé. Genau eine Minute nach 12 Uhr konnten wir die nächste Mail lesen. Sie enthielt eine Funktelefonnummer, eine Uhrzeit und den Hinweis, aus einer Zelle anzurufen und das Gespräch kurz zu halten. Offenbar fühlte sich auch Angel nicht sicher. Kein Wunder. Wer schützt die Engel?
England, 8. Juni 1999 Daß ich englisch gesprochen hatte, war mein erster cleverer Einfall gewesen, seit wir uns verstecken. Zwar spreche ich fließend deutsch, doch so perfekt ich die Sprache auch beherrsche, für die Unterscheidung der Feinheiten der Dialekte und Akzente fehlt mir die Übung. Angel hatte deutsch gemailt, aber deshalb mußte sie nicht unbedingt Deutsche sein. Die Mail kam über einen amerikanischen Provider, der unentgeltlich E-Mail-Adressen anbietet, aber deshalb mußte sie keine Amerikanerin sein. Ich hatte gehofft, aus ihrer Aussprache des Englischen Folgerungen über ihre Nationalität ziehen zu können. Leider hatte sie zu wenig gesagt, um eindeutige Schlüsse zu ermöglichen. Sicher war nur: Sie war keine Engländerin. Wie eine Deutsche tönte sie allerdings auch nicht. Der leichte Akzent klang slawisch. War unser Schutzengel eine Russin?
England, 9. Juni 1999 Es gab keinen Beweis dafür, daß Angel tatsächlich unser Schutzengel war. Ebensogut konnte sie uns in eine Falle locken. Bisher war uns die Berlin Connection stets einen Schritt voraus gewesen. Nun hatten wir sie abgeschüttelt, und sie versuchten uns mit Bauernfängertricks wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Andererseits klang, was Angel schrieb und sagte, vernünftig. Konnten wir es uns leisten, unsere einzige Chance zu verwerfen, nur weil es vielleicht eine Falle war?
England, 11. Juni 1999 Nach einer halben Woche intensiver Diskussionen steht unser Entschluß fest. Wir werden uns der Gefahr stellen. Uns bleibt keine andere Wahl, da wir uns nicht bis an unser Ende verkriechen können. Sofern Angel unser Schutzengel ist, bietet ihr Plan maximale Sicherheit. Und wenn sie es nicht ist? Dann sind wir sowieso verloren.
England, 12. Juni 1999
From: angel.of.darkness@freemail.us Hi, Roger und Katja, falls es Eurer Aufmerksamkeit entgangen sein sollte: Onkel Siegfried und Onkel Burckhardt sind aus beruflichen Gründen in die Hauptstadt umgezogen. An ihren Terminen hat sich dadurch nichts geändert. Herzliche Grüße von Angel
England, 13. Juni 1999 Onkel Siegfried ist natürlich Fugger, der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses. Über Onkel Burckhardt mußten wir etwas länger nachdenken, bis Katja einfiel, daß es sich dabei um den Vornamen von Burbach handelt, Fuggers Stellvertreter, einen in Deutschland ziemlich bekannten Rechtsanwalt. Zu Ruhm gelangte er durch einige spektakuläre Strafprozesse, sagt Katja. Er hatte die Mails des Untersuchungsausschusses an mich unterzeichnet. Wir packen, denn wir werden Angels Empfehlungen folgen.
Potsdam, 14. Juni 1999 Haben ein kleines Hotel in der Nähe des Bahnhofs Babelsberg bezogen. Von dort aus können wir morgen per S-Bahn nach Berlin fahren. Ich werde vor dem Untersuchungsausschuß aussagen, und wenn alles gut geht, können wir bereits am Abend wieder in Katjas Wohnung ziehen, weil dann alles ausgestanden ist, was uns Sorgen gemacht hat.
Berlin, 15. Juni 1999
Wir sind wieder in Katjas Wohnung. Und das heißt: Es ist geschafft. Als der Untersuchungsausschuß festgestellt hatte, daß der zum Termin geladene Zeuge tatsächlich nicht erschienen war, durfte ich an seiner Stelle aussagen. Auch mit der zusätzlichen Protokollierung meiner Aussage auf Videoband war Fugger einverstanden. Sie hatten alles da, was dafür notwendig war.
Berlin, 17. Juni 1999
Es ist zum Wahnsinnigwerden! Gestern morgen rief Angel an. "Das Video und die Protokolle sind über Nacht verschwunden."
Berlin, 18. Juni 1999 Zum Glück haben wir Freunde, mit denen wir nicht in Verbindung gebracht werden können. Als größte Hilfe erwies sich Bark, der Punk, nachdem wir ihn endlich gefunden hatten. Eine leere Wohnung für ein paar Wochen oder Monate? Kein Problem. Nein, keine Hausbesetzung, völlig legal, nur ohne Anmeldung. Der Inhaber ist bis Februar 2000 im Ausland. Bis dahin werden wir eine Lösung gefunden haben. Oder man hat uns gefunden.
Berlin, 21. Juni 1999 Bark versorgt uns, damit wir so selten wie möglich auf die Straße gehen müssen. Der einzige, der Bark mit uns zusammen gesehen hat, unser ehemaliger Leibwächter Smith von der CIA, ist in England verunglückt. Als Profi hat er seinen Auftraggebern sicher eine Beschreibung geliefert, aber erkennen Sie mal einen Punk nach der Beschreibung!
Berlin, 22. Juni 1999 Wir können wieder online gehen. Bark hat die Unterschrift des Wohnungsinhabers gefälscht und dessen Telefon wieder angemeldet. Bereits heute wurde der Anschluß freigeschaltet. Da wir das Haus fast nie verlassen, ist das Internet derzeit unsere einzige Möglichkeit, Kontakt mit der Welt zu halten. Der Untersuchungsausschuß wird jetzt selber untersucht, also müssen wir wohl oder übel selbst herausfinden, was ich weiß und was so gefährlich ist, daß deshalb Mordanschläge und ein Einbruch in einem Parlamentsgebäude riskiert werden.
Berlin, 24. Juni 1999 Vor zehn Jahren hatte ich an der Berliner Mauer eine Katze abzulichten versucht, die vor einem Blechbehälter herumstrich. Der Behälter war eine Filmbüchse, das habe ich schon vor Jahren herausbekommen. In solchen großen Büchsen lieferte Mosfilm die Filmrollen aus. Diese Spur hatte ich damals für unergiebig gehalten. Da die Büchse mein Foto verstrahlt hatte, enthielt sie mit Sicherheit keinen Film, zumindest keinen brauchbaren. Eher schon etwas, was Negative unbrauchbar machte, also nur zur Tarnung in einer Filmbüchse versteckt war. In dem Bunker, in dem ich die gefesselte Katja fand, standen ebenfalls solche Behälter. Vielleicht half es uns weiter, wenn wir uns mit russischen Filmen beschäftigten!
Berlin, 25. Juni 1999 Heutzutage kann man alles ansurfen, sogar den KGB (der natürlich nicht mehr so heißt). Das Wappen der Federalnaja Slushba Besopasnosti prangt zwar auf der Startseite, Aber dann ist es doch nur das Institut für Kryptografie, Nachrichtenverbindungen und Informatik (sagt Katja; ich kann nicht russisch). Und eine Verknüpfung zu belangvolleren Seiten, gar zu einer Suchmaschine gibt es nicht. Aber wir suchen weiter. Uns bleibt nichts anderes übrig.
Berlin, 26. Juni 1999 Man kann im Internet ertrinken. Vermutlich steht alles, was wir suchen, irgendwo darin. Wir bemühen Suchmaschinen und Metasuchmaschinen, checken Newsgroups und Homepages. Russische Filmbüchsen scheinen draußen in der Welt kein favorisiertes Thema zu sein. Wir wechseln das Forschungsthema und befassen uns mit Reaktorunfällen. Dutzende von Treffern, die meisten zu Tschernobyl. Werde zum Spezialisten für Strahlenschäden statt für verstrahlte Blechbehälter.
Berlin, 28. Juni 1999 Offenbar kann man doch nicht alles per Computer lösen. Die Spur der Blechdosen endet im Nichts. 1989 gab es keinen Reaktorunfall in der Sowjetunion. Jedenfalls keinen, der groß genug war, im Ausland bemerkt zu werden. Wäre ja auch merkwürdig, wenn irgendwelche radioaktiven Abfälle ausgerechnet in Filmdosen transportiert würden. Und wenn die russischen Filmemacher in Zeiten von Glasnost und Perestroika auch mächtig vom Leder zogen, so brisant waren die Filme nun auch wieder nicht, daß sie durch eine Blechwand strahlen.
Berlin, 30. Juni 1999 Das wochenlange Versteckspiel zeigt Wirkung. Katja und ich hatten unseren ersten ernstlichen Streit. Ich sei manisch fixiert auf die Berlin Connection. Wie sich bei unserer vergeblichen Recherche deutlich herausgestellt hat, weiß ich nichts über die Bande, was nicht irgendwo längst aktenkundig ist. Vielleicht sind sie ja aus anderen Gründen hinter mir her? Gab es ein Leben außerhalb der Berlin Connection? Was, zum Teufel, habe ich eigentlich in den zehn Jahren getan, in denen wir uns nicht getroffen hatten? Fotografiert, sagte ich. Und mußte zugeben, daß ich mir dabei nicht immer Freunde machte. Ich bin zu neugierig, und Verbote haben mich noch nie interessiert. Ich habe mal eine Reportage über Chemiefabriken gemacht. In dreien davon wurde ich durch den Werkschutz hinausgeworfen; zwei darf ich nicht mehr betreten, und in fünf weiteren bin ich mindestens unbeliebt. Außerdem bin ich unerwünschte Person in vier Staaten auf drei Kontinenten. Und bevor ich den Frühling in Großstädten fotografierte, was ja wohl eher unverfänglich ist, machte ich einen Bericht über illegale Einwanderer in London und kam durch Zufall ziemlich nah an eine chinesische Schlepperorganisation heran. Kann schon sein, daß ich nicht der beste Freund der Triaden aus Hongkong bin. Aber nicht Chinesen oder wildgewordene Chemiker haben auf mich geschossen!
Berlin, 1. Juli 1999 Als Katja heute wieder davon anfing, daß ich mich verrannt habe, konterte ich: Auch sie hat in den vergangenen zehn Jahren nicht zurückgezogen in ihrem Zimmer gelebt. Und die Verfolgung begann erst nach unserer Begegnung. Vielleicht hat sie ja mit ihr zu tun? Die billige Retourkutsche erwies sich als Treffer. Katja wurde sehr nachdenklich. Und erzählte mir dann den Teil ihres Lebens, den sie mir bisher verschwiegen hatte. Mit ihrem letzten Freund war sie fast zwei Jahre zusammengewesen. Ein aufstrebender Jungunternehmer, hatte sie gedacht. Nach und nach bekam sie mit, daß seine Geschäfte weiter als üblich von der Legalität entfernt waren. Und seine seriös wirkenden Geschäftspartner waren Gangster. Sie handelten mit osteuropäischen Mädchen und wahrscheinlich auch mit Drogen. Als sie sich von ihm trennte, stieß er finstere Drohungen aus. Wenn sie etwas von dem, was sie erfahren hat, weitererzählt, wird sie sterben. Ihre Geschichte erschütterte mich so sehr, daß wir uns auf der Stelle versöhnten.
Berlin, 2. Juli 1999 Kriegsrat mit Katja und Bark. Wir haben immer nur reagiert. Unser Handeln, das im wesentlichen Verstecken war, wurde uns von außen aufgezwungen. Wir wissen nicht genau, wer warum hinter uns her ist. Gesehen habe ich Michalke und Leterrier. Der Franzose ist tot, der Deutsche untergetaucht. Also müssen wir uns an den Mann halten, dessen Adresse wir kennen. Das ist Wollf-Glogowski alias "Jäger". Falls überhaupt jemand weiß, wo Michalke steckt, dann dessen ehemaliger Kumpan. Wir werden ihn unter Druck setzen. Keiner von uns stellte die Frage, ob man das darf. Ich glaube, wir alle gönnen ihm den Druck.
Berlin, 4. Juli 1999 Wir sind es schon nicht mehr gewöhnt, mit vielen Menschen zusammenzusein. Als Bark vier Freunde mitbrachte, bekamen wir Platzangst. Die verflog allerdings, als wir unsere Geschichte erzählten und viel Anteilnahme spürten; alle waren sofort bereit, in unserem Plan mitzuwirken. "Was wir vorhaben, ist nicht kriminell, sondern berechtigte Notwehr", sagte einer, und damit war die Frage, ob man das darf, vom Tisch. Michalke fragt ja auch niemanden, ob er auf mich schießen darf.
Berlin, 5. Juli 1999 Einer von Barks Freunden hat Jägers Wohnung beobachtet. Er ist zu Hause. Unser Kundschafter hat auch Jägers Wohnungstür besichtigt. Kein ernstliches Hindernis, sagt er. Morgen abend werden wir zuschlagen!
Berlin, 6. Juli 1999
Kurz vor Mitternacht begann die Aktion. Unser Beobachter hatte nichts Auffälliges bemerkt. In Wollf-Glogowskis Wohnung brannte Licht. Dem Schlüsselexperten bereitete weder die Haustür noch die Wohnungstür Schwierigkeiten. Stilecht kostümierten wir uns mit Haßmasken; schließlich waren wir, von mir abgesehen, allesamt Punks oder doch zumindest Ex-Punks. Unser Plan war, "Jäger" zu entführen, einzuschüchtern und Informationen aus ihm herauszupressen. Sprechen sollte nur Bark, den der ehemalige Stasi-Hauptmann nicht kannte, damit er nicht herausbekam, in wessen Hände er geraten war.
Berlin, 7. Juli 1999
Michalke war nur mit Pistole ein ernst zu nehmender Gegner; er war zu alt für Schlägereien. Und Pistolen hatten sie entweder nicht dabei, oder sie wollten in einem Mietshaus der Nachbarn wegen nicht schießen. Wir waren zu sechst, also hätten wir eigentlich gewinnen müssen. Doch meine Punks waren bestenfalls Naturtalente. Die anderen hatten Kampftechniken gelernt, gegen die wir wenig ausrichten konnten. Die Prügelei ging fast stumm vonstatten. Wir waren Einbrecher und potentielle Kidnapper, also waren wir nicht an einer Einmischung der Polizei interessiert. Und die anderen waren noch viel krimineller und polizeischeuer als wir.
Berlin, 8. Juli 1999 Die meisten der Dokumente verstehe ich nicht. Sie beziehen sich auf geschäftliche Vorgänge, die ohne Kenntnisse der gesamten Transaktionen wenig Sinn ergeben. Wüßte ich es nicht besser, würde ich es für die normale Geschäftskorrespondenz einer normalen Unternehmens halten. Vielleicht kann ein Spezialist etwas damit anfangen. Eindeutig belastend ist nur ein einziger, leider sehr kurzer Brief. Er ist in englischer Sprache verfaßt und an Jäger gerichtet. Ich habe die gesamte Korrespondenz gescannt und in codegesicherten Dateien in meinem Laptop versteckt.
Berlin, 9. Juli 1999
Hamburg, 29. 09. 1989 Das Schreiben ist erstaunlich eindeutig. Ein Mann namens Wolkow hat einen russischen Lehrfilm zur Herstellung von Atomwaffen beschafft, der über die "Berlin Connection" an einen Interessenten im Nahen Osten weiterverkauft werden sollte. "Jäger" sollte ihn an Leterrier übergeben, der vermutlich als einziger die damals noch geschlossene Grenze problemlos passieren durfte. Aus einem unbekannten Grund verzögerte sich die Lieferung, Miller - damals in Hamburg eingesetzt - drängelte und drohte mit Sanktionen durch den Chef, dessen Name leider nicht genannt wurde. Das war endlich ein Beweis, mit dem der Untersuchungsausschuß etwas anfangen kann.
Berlin, 10. Juli 1999 Der Untersuchungsausschuß befindet sich längst in der Sommerpause, wahrscheinlich vorfristig wegen der laufenden Ermittlungen nach dem Diebstahl meiner Aussagen. Aber ich will wieder auf die Straße. Meine Tante liegt im Sterben, wie ich der Presse entnommen habe. Ich würde sie vor ihrem Tod gern noch einmal sehen. Schließlich ist sie die einzige Verwandte, die mir wirklich nahe steht. Ich will einen Deal mit Miller und seinen Kumpanen machen. Die Dokumente und mein Schweigen gegen die Zusicherung, die Verfolgung meiner Person einzustellen. Katja ist empört, daß ich bereit bin, mit Gangstern zu paktieren.
Berlin, 15. Juli 1999 Unser Streit hatte böse Folgen. Sie waren so gravierend, daß ich tagelang nicht zum Schreiben kam - und das war mein geringstes Problem. Am Sonntag begann es, beim Frühstück. Katja machte mir wieder Vorwürfe. Sie hatte mich für kämpferischer gehalten. Sollten diese Leute denn so einfach davon kommen? Wir gingen uns ein paar Stunden aus dem Weg. Ich dachte gründlich nach und entschied, daß es keine andere Möglichkeit gab, als mich mit den Verfolgern zu arrangieren. Das sagte ich ihr am späten Nachmittag. Vielleicht wurde ich etwas schärfer als üblich, weil mir unwohl war bei dem geplanten Deal. Zugegeben, ich beleidigte sie. Das hätte ich nicht tun sollen. Sie rannte wütend davon und knallte die Tür hinter sich zu. Natürlich folgte ich ihr sofort. Und sah, wie sie in einen BMW geschubst wurde. Michalke konzentrierte sich so auf seine Aktion, daß er mich nicht bemerkte. Er sprang hinein, und der Wagen jagte davon; es gelang mir nicht einmal, mir die Nummer zu merken. Wie hatten sie uns gefunden?
Berlin, 16. Juli 1999
Wäre nicht kurz nach Katjas Entführung Bark gekommen, hätte ich sicher etwas Unüberlegtes getan. Wir besprachen die Situation. Er empfahl mir, sofort das Quartier zu wechseln. Sofern es der "Berlin Connection" nicht ohnehin schon bekannt war, würde es Katja ihnen verraten, wenn man sie entsprechend unter Druck setzte. Das mochte ich mir gar nicht vorstellen, aber der Punk hatte natürlich recht. Ich packte meine wenigen persönlichen Sachen zusammen und zog bei einem seiner Freunde ein. Dann rief ich "Jäger" an. Da wir nicht wußten, über welche Möglichkeiten zum Rückverfolgen von Telefonaten die ehemaligen und vor allem die noch aktiven Geheimagenten verfügten, nutzte ich eine Zelle. Aber Wollf-Glogowski meldete sich nicht. Erst um Mitternacht ging er ans Telefon.
Berlin, 17. Juli 1999
In der Nacht hatte ich kaum geschlafen. Total übernächtigt stand ich Montagmorgen in einer Telefonzelle.
Berlin, 18. Juli 1999
Natürlich war es eine Falle. Das merkte ich, als ich das Haus betrat. Es war ein Neubau, noch nicht bezogen. Mitten in der Stadt, und doch ein sehr verschwiegener Ort, an dem die Herren Michalke, Miller, Wollf-Glogowski und Wolkow - so nannten sie den Russen - keine Hemmungen hatten, mir mit gezogenen Waffen entgegenzutreten. "Fairneß?" fragte "Jäger" und schüttelte traurig den Kopf." "Das Leben ist nun mal nicht fair, Mr. Penrose!" Sie packten mich, durchsuchten mich und schleiften mich dann in den Keller.
Berlin, 19. Juli 1999
Als ich erwachte, saß Katja neben mir. Wir waren in einem fensterlosen Keller eingeschlossen. In dieser Situation war der vorangegangene Streit völlig belanglos. Wir fielen uns in die Arme und küßten uns. Über unsere Situation machten wir uns keine Illusionen. Die vier Herren hatten wenig Scheu vor dem Blutvergießen. Sie würden uns noch genau so lange am Leben lassen, bis sie alle Dokumente an sich gebracht hatten, vor allem meinen Computer. Das würde nicht lange dauern. Diese Nacht war unsere letzte.
Berlin, 20. Juli 1999
Diesmal schlief ich nicht ein, und so konnte ich, als ich wieder klarer im Kopf war, selbst eine Frage stellen. Weshalb waren sie eigentlich die ganze Zeit hinter mir her gewesen? Daß ich nichts über sie wußte, abgesehen von den paar Sachen, die ich bereits vor zehn Jahren zu den Akten gegeben hatte, konnte ihnen doch nicht entgangen sein. "Ist nicht persönlich", sagte Miller und grinste. "Ist rein geschäftlich."
Berlin, 21. Juli 1999
Das Sondereinsatzkommando kam zwar nicht aufs Stichwort, aber wie gerufen. Nur wer sie gerufen hatte, das bekamen wir nicht heraus. Der Einsatzleiter verwies uns an einen Hauptkommissar der Kripo. Kommissar Everding war nicht sehr mitteilsam, doch
entnahmen wir seinen Andeutungen, daß er durch einen anonymen Anruf auf die Spur unserer Entführer gebracht wurde. Als er herausbekommen hatte, daß ich Penrose bin, wollte er mich beinahe als flüchtigen Zeugen festnehmen, aber dann hörte er sich doch in aller Ruhe meine Geschichte an. Nun sitzen sie alle in Untersuchungshaft, auch "Jäger", der dem anrückenden SEK direkt in die Arme gelaufen war.
München, 22. Juli 1999
Ich habe endlich meine schwerkranke Tante besucht. Schließlich ist sie die einzige Blutsverwandte, die mir nahesteht. Meine Mutter ist kurz nach meiner Geburt gestorben. Mein Vater starb vor drei Jahren bei einem Verkehrsunfall. Zu seiner zweiten Frau habe ich ein gutes Verhältnis, schließlich hat sie mich großgezogen - sie und meine Tante, die ich oft in München besuchte. Vaters ältere Schwester hat einen deutschen Industriellen geheiratet. Onkel Karl war wesentlich älter als sie; er ist schon fast zehn Jahre tot. Seitdem gehören Tante Lucie all seine Firmen, irgend etwas mit Chemie und Energie, auch ein Kernkraftwerk gehört zum Firmenimperium, glaube ich, ich habe mich nie sonderlich dafür interessiert.
München, 23. Juli 1999
Zum Glück für mich trat der Fahrer reaktionsschnell auf die Bremse. Ich wurde umgestoßen, zog mir aber außer einem blauen Fleck keine Verletzung zu. Und weil ich in den letzten Monaten dauernd mit Gewalt gegen mich konfrontiert wurde, stand ich nicht mal unter Schock. Ich rappelte mich auf und sah, daß direkt neben Katja zwei riesige Männer miteinander kämpften. Der Fahrer stieg aus und beschimpfte mich auf urbayerisch. Ich tat, als würde ich ihn nicht verstehen. Katja schrie, und ich rannte zu ihr. Einer der beiden Ringer war unser ehemaliger Bodyguard, der den Unfall in England demzufolge unbeschädigt überlebt hatte. Und den anderen Riesen hatte ich in Paris gesehen. Er hatte mich dort so unauffällig beschattet, wie das ein dicker Mann von fast 2 Meter Größe nur konnte. Ich wußte nicht, zu wessen Gunsten ich eingreifen sollte. Auf den Einfall, die Polizei zu rufen, war sicher schon ein anderer Passant gekommen, doch ließ sich kein Uniformierter blicken. Katja und ich klammerten uns aneinander und standen starr da wie die anderen Zuschauer. Als es so aussah, als sei Smith im Vorteil, löste sich eine Frau aus dem Publikum, die ich erst jetzt erkannte. Sie hatte mich in Paris davor gerettet, überfahren zu werden, und auch heute war sie in gleicher Situation zur Stelle. Sie drückte Smith eine Pistole ins Genick, und der erstarrte. Der andere Dicke zauberte Handschellen hervor und nahm Smith fest. Dann zeigte er sehr schnell eine Marke in die Runde und sagte: "Dies ist eine Polizeiaktion. Sie ist beendet. Bitte gehen Sie weiter!"
Berlin, 24. Juli 1999
Wir sind wieder in Katjas Wohnung, nachdem ich gestern noch einmal Tante Lucie gesehen hatte und anschließend einen Pflichtbesuch bei meinem Großcousin abstattete. Walter führt die Geschäfte in Tante Lucies Konzern. Ein trockener, langweiliger Bürokrat. Ich machte bald, daß ich davonkam. Es gab so vieles, was interessanter war als der Langweiler.
Berlin, 25. Juli 1999
Angel hieß Sophie, ließ sich gern Zofia nennen, was die slawische Variante ihres Namens ist, und englisch mit slawischem Akzent zu sprechen war eine ihrer leichtesten Übungen, sagte sie. Ihre Firma nannte sie nie direkt beim Namen, doch wurde schnell klar, daß es sich um den Bundesnachrichtendienst handelt. Ihre Geschichte begann 1994 mit dem berüchtigten Plutoniumdeal. Eine groß angelegte Aktion war schief gelaufen, und am Ende sah es so aus, als habe der BND den Plutoniumschmuggel organisiert. Der damals eingesetzte Untersuchungsausschuß sprach den BND zwar frei, aber etwas bleibt immer kleben. Der Geheimdienstpräsident Porzner trat zurück, und der Dienst hatte sich blamiert. "Es gab Anzeichen, daß die Berlin Connection uns eine Falle gestellt hat. Sie spielten der Presse echte und geschickt gefälschte Geheiminformationen zu." Ja, ich erinnerte mich, im "Spiegel" vom "Bombenschwindel des BND" gelesen zu haben. Doch was hatte das mit mir zu tun?
Berlin, 26. Juli 1999
"Ja", sagte Angel. "Ich war es, der Dir am Trocadero den Schubs gab, aber ich habe dich sofort zurückgerissen, damit dir nichts passiert. Wir hatten noch ein paar andere Sachen vorbereitet, aber das war nicht nötig, denn auf einmal wurde wirklich auf dich geschossen, und, welch Glück für uns, von den beiden übelsten Ganoven, die jemals für die Berlin Connection gearbeitet haben - Michalke und Leterrier. Und ihr beide hattet auch Glück, daß wir von nun an immer zur Stelle waren, um euch zu schützen. Manchmal habt ihr uns abgeschüttelt, aber wir haben so unsere Methoden. Wir waren immer ein bißchen schneller als Miller. Der konnte zwar auch auf geheime Daten seiner Firma zurückgreifen, doch nicht so offen wie wir. Seine privaten Geschäfte durfte die CIA nicht entdecken. Wir hingegen arbeiten im Einverständnis mit unserer Firma. Also waren wir auch in England zur Stelle, als Smith euch auf der Straße erledigen wollte."
Berlin, 27. Juli 1999
Ein paar Fragen blieben offen. Wie hatte Michalke uns gefunden, wenn Miller nicht die CIA einspannen konnte? Zofia lächelte verlegen, dann gab sie zu, daß wir nun mal der Köder gewesen seien. Sie hatte dem Russen einen Tip zugespielt, "nur die Straße, daß Katja Michalke sofort in die Arme rennt, war nicht vorauszusehen, aber wir haben aufgepaßt, daß euch nichts passiert."
Berlin, 30. Juli 1999 Seit dem Gespräch mit der BND-Agentin ist über eine Woche vergangen. Ich habe das wichtigste notiert; natürlich war es wesentlich ausführlicher. Zofia gab mir einen Tip, den ich irgendwie an Everding weitergeben sollte, den Kommissar, der die Ermittlung gegen die vier festgenommenen Entführer leitete. Und sie versprach, irgendwie hinter den Kulissen wirksam zu werden, mir ein Gespräch mit "Jäger" zu ermöglichen. Das ist an sich nicht statthaft während der Untersuchungshaft. Ich bin ja weder Anwalt noch Polizist und ganz gewiß kein Angehöriger. An sich müßte ich längst wieder in England sein. Zu viel Arbeit ist in den letzten Monaten unerledigt geblieben. Aber ich warte darauf, daß der BND mir das Wunder ermöglicht, zur Verwirklichung der Gesetze gegen ein Gesetz zu verstoßen.
München, 1. August 1999
Habe mit Katja noch einmal meine Tante Lucie besucht. Es geht ihr sehr schlecht. Der Arzt nahm mich auf dem Flur beiseite und deutete mir an, daß ich mich in den nächsten Tagen "auf eine traurige Nachricht gefaßt" machen müsse.
Berlin, 2. August 1999
Nachricht von Everding: Meinem Antrag (welchem Antrag? Ich habe keinen gestellt!), mit dem Untersuchungshäftling Arnfried Wollf-Glogowski zu sprechen, wurde befürwortet. Im Interesse der Ermittlungen darf ich am Mittwoch eine Stunde im Sprecherraum mit meinem alten Feind "Jäger" plaudern. Das Gespräch werde gemäß Antrag unter vier Augen stattfinden.
Berlin, 3. August 1999
Wollf-Glogowski scheint mir das schwächste Glied der Connection zu sein. Mir ist klar, daß er Katja und mir bei unserem Besuch am 28. April den Jammerlappen vorspielte, aber es war eine Rolle, die nahe bei seinem Charakter lag. Vor zehn Jahren hat er seine Macht verloren. Der Versuch, seriös zu werden, ist gründlich gescheitert, und das Geld, das er in der "Berlin Connection" und sonstwo verdiente, hat er verspielt. Wenn einer der vier Entführer redet, dann er. Smith, Millers Bodyguard, sitzt in München und ist nur ein Handlanger. Michalke ist ein Killer, Miller bin ich nicht gewachsen, den Russen kenne ich nicht. Wobei ich in Wolkows Fall nicht sicher bin. Ich kann nicht ausschließen, daß ich ihm 1989 auch schon begegnet bin. Und zwar in Westberlin. Diese Information hatte ich Zofia bereits bei unserem Gespräch in München gegeben. Und heute kam der Rückruf.
Berlin, 4. August 1999
Heute ist so viel Mitteilenswertes passiert, daß ich wohl wieder ein paar Tage benötigen werde, um alles aufzuschreiben. Ich beginne mit dem Briefing bei Hauptkommissar Everding. Der war gar nicht erfreut über meine Sonderrechte, und das ließ er mich deutlich spüren. Seine Laune besserte sich auch nicht sichtlich, als ich ihm den Hinweis gab, doch einmal zu überprüfen, wer Michalke anno 1971 vor Gericht vertreten hatte, als der zwielichtige Bratwursthändler in Verdacht geraten war, für die Stasi zu spionieren.
Berlin, 5. August 1999
"Wer sind Sie, Penrose?" fragte auch Wolff-Glogowski alias "Jäger". "Für wen arbeiten Sie?" Meiner wahrheitsgetreuen Versicherung, ich sei freiberuflicher Fotograf und sonst nichts, schenkte er keinen Glauben. Weshalb er bereit war, mit mir zu sprechen, weiß ich nicht. Besonders mitteilsam war er jedenfalls nicht. Was nicht heißt, daß er nicht redete. Jammernd ließ er sich über das Thema aus, daß er nur ein ganz kleines Licht war, ohne jeden Einfluß, ein Mitläufer, der in schlechte Gesellschaft geraten war ...
Berlin, 6. August 1999
Die Chance, Kronzeuge zu werden, machte "Jäger" hellhörig. Er erkundigte sich nach Details, und ich schüttelte sie aus dem Ärmel. Straffreiheit, wenn die Tatbeteiligung von untergeordneter Schwere war, und Genuß des vollen Zeugenschutzprogrammes mit neuer Identität, neuer Wohnung an einem jedermann gegenüber geheimgehaltenen Ort. Daß ich nicht befugt war, ihm solcherart Versprechungen zu machen, ließ ich unerwähnt.
Berlin, 7. August 1999
"Jäger" stellte sich stur, also fuhr ich die Überrumpelungstaktik. "Wir", ich benutzte die erste Person Plural, das macht immer Eindruck, "wir wissen sowieso eine ganze Menge. Wir wissen, daß Michalke 1971 in Westberlin vor Gericht stand und durch Rechtsanwalt Burbach vertreten wurde. Wir wissen, daß Wolkow - damals nannte er sich Danilow - 1982
in Westberlin vor Gericht stand und durch Rechtsanwalt Burbach vertreten wurde. Sie kamen durch Michalke zum Verein, und Miller kam der 'Berlin Connection' in seiner Eigenschaft als CIA-Agent auf die Schliche, aber anstatt die Beobachtung zu melden, stieg er lieber ein, weil damit mehr Geld zu verdienen war. Es ist also kein Geheimnis, wie
Ihr Chef Burbach seine Leute rekrutiert hat."
Berlin, 8. August 1999
"Jäger" begriff schnell, daß er keine Alternative hatte. Wir wußten ohnehin alles, also brauchte er sich kein Gewissen wegen des Verrats zu machen - falls er so etwas wie ein Gewissen überhaupt besaß. Wenn er standhaft blieb, würden die eigenen Leute dafür sorgen, daß er den Gefängnisaufenthalt nicht überlebte. Nur wenn er aussagte, gab es eine vage Chance. So wand er sich nicht mehr lange, bis er sagte: "Es stimmt. Der ehrenwerte Rechtsanwalt Burckhardt Burbach, Mitglied des Bundestages und stellvertretender Vorsitzender des Untersuchungsausschusses, ist der Chef der 'Berlin Connection'".
Berlin, 9. August 1999
Wolff-Glogowski behauptete, über die Mordanschläge gegen mich nicht informiert zu sein, doch so billig ließ ich ihn nicht davonkommen. Ich fuhr mein schwerstes Geschütz auf.
Berlin, 10. August 1999
"Strengen Sie sich an, 'Jäger'", sagte ich. "Sie sind zu intelligent, bei einer Sache mitzumachen, von der Sie nichts wissen. Weshalb sollte ich ermordet werden?"
Berlin, 11. August 1999
"Es hat nichts mit der 'Berlin Connection' zu tun", begann "Jäger". "Es war ein Privatgeschäft von Miller, für das er Leterrier, Michalke und Smith eingespannt hat. Nur diese drei. Ich hatte damit nichts zu tun, und Danilow - ich meine Wolkow - auch nicht. Wolkow war wütend auf Miller, weil der mit diesem verpfuschten Mord in Paris die Aufmerksamkeit auf die Connection gelenkt hat. Er mußte extra aus Moskau anreisen, um zu helfen, den Schaden zu begrenzen, und ich wurde auch erst hinterher hinzugezogen. Miller sagte nur, es war ein Auftrag, und der wird so gut bezahlt, daß Danilow auch nicht hätte nein sagen können. Mehr weiß ich nicht. Was glauben Sie denn, wer Interesse hat, Sie zu beseitigen?"
München, 12. August 1999 Tante Lucie ist gestorben. Ich bin in München, um die Formalitäten für die Beisetzung zu regeln. Ich bin ihr nächster Verwandter, aber auch wenn ich das nicht wäre, würde ich es tun. Sie war meine Lieblingstante. Sie stand mir wirklich nahe, was man von den meisten Verwandten nicht immer sagen kann. Ich werde sie vermissen.
Berlin, 13. August 1999
Heute vor 38 Jahren wurde die Grenze nach Westberlin geschlossen. Die Mauer stand 28 Jahre und drei Monate. Habe mit Katja einen Mauerspaziergang gemacht. Nur noch an wenigen Stellen sieht man, wo einst die Grenze verlief. Die Stadt wächst schneller zusammen als die Menschen, die darin leben.
Berlin, 14. August 1999
"Ich weiß doch noch gar nicht, wieviel ich erben werde", sagte ich. "Und ich bin nicht hinter der Erbschaft her."
Berlin, 15. August 1999
"Ihr Zeuge, Herr Kommissar", sagte ich zu Everding, als ich die Sprecherzelle verließ. Er hatte natürlich über Kopfhörer mitgehört und das Gespräch auf Band aufgezeichnet. Nun sah er mich merkwürdig an und fragte: "Für wen arbeiten Sie, Mr. Penrose?"
München, 17. August 1999 Tante Lucie wurde neben meinem Onkel in der Familiengruft beigesetzt. Mir wäre ein stilles Begräbnis lieber gewesen, aber sie war eine Person des öffentlichen Lebens, ich konnte die Öffentlichkeit nicht ausschließen, und so erschien die gesamte Münchner Prominenz und fast alles, was in der deutschen Wirtschaft Rang und Namen hat. Aus dem Ausland trafen körbeweise Beileidstelegramme ein; sogar Bill Gates kondolierte - per E-Mail.
München, 18. August 1999 Bei der Testamentseröffnung waren nur Walther, ich und die Familienanwälte zugegen. Tante Lucie war tatsächlich ziemlich reich gewesen. Aktien, Haus- und Grundbesitz und Barvermögen beliefen sich auf annähernd 250 Millionen DM. Und der Universalerbe war ihr Neffe Roger Penrose aus London. Ich! Allerdings ging einiges an Stiftungen ab, die ich aus der Erbschaft zu zahlen hatte. Das Personal wurde bedacht, das Krankenhaus erhielt eine sehr großzügige Spende, und etliche Millionen gingen an karitative Organisationen. Außerdem setzte sie eine stattliche Stiftung zur Krebsgrundlagenforschung aus. Aber es blieb immer noch genug übrig. Wie es aussah, war ich der Hauptaktionär der Münchner Südstrom AG. Und Walther ging fast leer aus.
München, 19. August 1999
Ich suchte Walther Dahrenbeck in seinem Büro im Direktionsgebäude der Südstrom auf und kam gleich zur Sache.
München, 20. August 1999
"Das ist absurd!" wehrte sich Walther.
Berlin, 21. August 1999 Everding arbeitet auch am Wochenende. Nach und nach beginnen auch die anderen zu reden. Das Bild einer weit verzweigten Organisation beginnt sich abzuzeichnen. Alle Mitglieder wird man wahrscheinlich nie fassen, die meisten leben im Ausland, und ob jemand mit Überblick sie alle verraten wird, ist zu bezweifeln. Burbach, der zur Sondersitzung des Untersuchungsausschusses klugerweise nicht erschienen ist, bleibt untergetaucht. Trotzdem ist es ein schöner Erfolg für die Polizei, und wenn Everding so weitermacht, ist er noch vor Weihnachten Kriminalrat.
Berlin, 23. August 1999 Siegesfeier mit Bark. Der Punk war froh darüber, daß am Ende alles gut ausgegangen war. Er war derjenige, der uns in der letzten Zeit am meisten geholfen hatte, also wollte ich ihn natürlich wenigstens ein bißchen an meinem Reichtum beteiligen, aber er lehnte ab. "Wat ick für euch jekooft habe, det habt ihr bezahlt. Und mehr will ick nich. Jeld paßt nich zu mir. Det paßt ja nich mal zu dir!"
Berlin, 25. August 1999 Ich habe Katja ganz altmodisch einen Heiratsantrag gemacht. Sie hat gezögert, weil ich denken könnte, sie nimmt mich nur meines Geldes wegen. Das ist natürlich Unsinn. Wir haben uns schon geliebt, als wir mit wenig Geld in üblen Absteigen unterkriechen mußten.
Berlin, 28. August 1999
Mein Kampf gegen die "Berlin Connection" ist vorbei. Ich muß mich nicht mehr vor Killern verstecken, sondern bloß noch vor Schnorrern. Das ist wesentlich angenehmer. Mit den Gangstern werden sich jetzt andere beschäftigen, Everdings Sonderkommission vor allem, aber auch der Untersuchungsausschuß. Ich werde genau verfolgen, was sie herausfinden. Bis jetzt war es ja nicht sehr viel, aber sie hatten den Feind in den eigenen Reihen, und Siegfried Fugger hat Besserung gelobt.
Berlin, 29. August 1999 Burbach wurde in Mexiko gefaßt. Seiner Auslieferung steht nichts im Wege, aber die bürokratischen Formalitäten werden ihre Zeit benötigen, also darf Everding eine Dienstreise machen, um ihn zu vernehmen. Ich hatte einen Augenblick überlegt, ob ich ihn begleite - leisten kann ich es mir jetzt ja. Aber dann habe ich mich dagegen entschieden. Ich will mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben.
Berlin, 2. September 1999
Katja und ich haben uns mein Tagebuch durchgelesen, vom ersten bis zum letzten Eintrag. Für uns, die wir es erlebt haben, ist es eine bunte Geschichte, und es ist schade, daß ich über viele Ereignisse so kurz hinweggehuscht bin. "Da war doch viel mehr los", sagte sie. "Das mußt du ausführlicher aufschreiben, solange du dich noch daran erinnern kannst."
Berlin, 3. September 1999 Everding ist wieder da und hat mich gleich angerufen. Nicht aus Sehnsucht nach mir, sondern weil er hoffte, daß ich einen Hinweis auf den Verbleib von Walther Dahrenbeck geben kann. Der ist nämlich trotz polizeilicher Beschattung spurlos verschwunden. Wahrscheinlich ahnte er, daß ihn Burbach belasten würde. Natürlich habe ich keine Ahnung, wo er steckt. Seit ich ihn aus der Firma warf, hat er sich nicht bei mir gemeldet, und das wird er sicher auch nicht tun.
Berlin, 4. September 1999
Meine Vermutung im gestrigen Eintrag war ein Irrtum. Walther hat sich bei mir gemeldet. Woran er vermutlich nicht dachte, war, daß die Nummer auf dem Display angezeigt wird. Eine belgische Vorwahl. Ich notierte die Nummer.
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